Von Nazis, Stasi und Republikflucht nach Ungarn: Blendwerk

Die Blendwerk-Trilogie – eine deutsch-ungarische, romanhafte Biografie – ist nun komplett im Engelsdorfer Verlag in Leipzig veröffentlicht.
Von Nazis, Stasi und Republikflucht nach Ungarn: Blendwerk

In zweifachem Wortsinn geht es in der autobiographisch gefärbten Romantrilogie um Versager, um Menschen, die sich einer Diktatur versagt haben, und um solche, die individuell oder als Verbrecher wider die Menschlichkeit in ihrem Menschsein versagt haben. Bestandsaufnahme einer Familie über mehrere Generationen hinweg. Bestandsaufnahme einer Gesellschaft und ihrer Verhaltens- und Vorurteilsmuster. Der Romanheld wird mitten ins Dritte Reich hineingeboren, wächst in der DDR auf. Angewidert vom Verhalten und der Sprache seiner sozialistischen Umwelt, einer Sprache, die, wie Viktor Klemperer in seinem LTI anklingen läßt, an die Sprache des Dritten Reichs erinnert, versagt er sich der sozialistischen Ordnung. Gefängnis und Irrenanstalt sind die Folgen seines zivilen Ungehorsams und einer Verstrickung in eine nicht lebbare Liebesbeziehung. Bespitzelung durch die Stasi bis hinein in intimste Bereiche. Eine ganz schön schreckliche Zeit, eine ganz schrecklich schöne Zeit, dennoch aber und vor allem die Zeit der Persönlichkeitsfindung.
Unmittelbar nach dem Sturz des Prager Frühlings 1968 geht Leo Kleinschmidt nach Ungarn, wo er in eine Gentryfamilie eingeheiratet, „Republikflucht“ nach Ungarn begangen hat. Er gerät vom Regen in die Traufe, erfährt vom Mißbrauch eines Mädchens, seiner ostdeutschen Schwägerin, läßt sich ihre scheußliche, ja, unglaubliche Geschichte erzählen. Versucht sich als Übersetzer literarischer Texte, setzt sich mit Hilfe eines gefälschten Passes in den Westen ab, wo er sich endgültig zum Übersetzer mausert. Zwei Jahre später kann er mit abenteuerlich zu nennender Hilfe seine Familie nachholen.
1989, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer, lernt Leo Kleinschmidt in einer Gesellschaft, deren Hauptfiguren ein berühmter polnischer Stotterer und eine aus dem Zuchthaus entlassene RAF-Terroristin sind, eine Polin kennen: Teresa. Wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel trifft es beide. Sie verlieben sich unsterblich ineinander. Noch freilich wissen sie nicht, daß ihre Liebe, eine Jagd nach absoluter Erfüllung, zum Scheitern verurteilt ist. Doch hier beginnt bereits eine neue Geschichte, nämlich „Seelenrisse“.
Im Mittelpunkt von Versucher und Versuchte steht Leo Kleinschmidts Beziehung zu Rahel, Julius Bálints Tochter, und zu Miriam, der Tochter eines berühmten Professors, der auf Geheiß der Partei die republikflüchtige Tochter aus der Schweiz zurückholen muß.
Nach Gefängnis und Irrenanstalt in der DDR begeht der fünfundzwanzigjährige Erzähler Leo Kleinschmidt (ich, ein anderer!) 1968 „Republikflucht“ nach Ungarn. Seine Vergangenheit, die persönlichen und politischen Erniedrigungen, die Erinnerung an seinen Großvater, den Gestapo-Offizier, an seinen Vater, den gläubigen Nazi, der infolge des Zusammenbruchs auch selbst zusammengebrochen, krank geworden und erblindet ist, an seine Mutter, die den Ehemann dank ihrer Weitsicht und Anständigkeit vor aktiver Beteiligung an Verbrechen bewahrt hat, an seine jüdische Großmutter, die Selbstmord begangen hat, schleppt er mit sich.
Leo Kleinschmidts Leben in Ungarn findet in mehreren Welten statt, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Er macht, nachdem er ungarisch gelernt hat, als Übersetzer Bekanntschaft mit einer fremden Literatur, zu der er sich alsbald hingezogen fühlt. Er lernt Juden kennen, die Auschwitz überlebt haben und von dort in eine feindselige Umwelt zurückgekehrt sind. Er lernt eine Deutsche kennen, die in den dreißiger Jahren zum Judentum konvertiert ist, deren Bruder als glühender Nazi Redakteur des nazistischen „Stürmer“ gewesen ist. Er lernt Menschen kennen, die als 56er Revolutionäre zum Tode verurteilt und begnadigt worden sind. In der Redaktion einer deutschsprachigen Zeitung macht er Bekanntschaft mit Grafen, Baronen, Spanienkämpfern, Spitzeln und Bespitzelten.
György Konrád: „Ein großer Kenner der ostdeutschen Literatur bin ich zwar nicht, aber auf Grund meiner bisherigen Lektüre wage ich, der Ahnung Ausdruck zu geben, daß das Buch meines Freundes Hans-Henning Paetzke auch innerhalb dieses Rahmens Neues bietet. Ich nehme an, daß seine romanhafte Autobiographie die ihm entsprechenden deutschen Leser finden wird, die auch selbst in eng determinierten Situationen die Frage der Entscheidung beschäftigt hat (…) Hans-Henning Paetzke hat seine Position des empathischen Außenseiters zum Mehr an Klarblick verholfen. Er hat sich die Disziplin der zeitlichen Distanz zu eigen gemacht, und der Übersetzer hat sich auf das Erinnern vorbereitet.“
György Dalos zu Hans-Henning Paetzkes Roman: „Als Ergänzung zum Titelverweis auf Canettis „Die gerettete Zunge“ eine Hölderlin-Allusion: „In diesem Lande leben wir wie Fremdlinge im eignen Haus.“ Der Haupttitel markiert jenen Moment, als das Unterdrückte, jedoch nicht Vergessene nach draußen drängt. Der private Lebenslauf will zur öffentlichen Angelegenheit werden, siehe Goethe: „…Dichter lieben nicht zu schweigen,/ Wollen sich der Menge zeigen./ Lob und Tadel muß ja sein!/…“
In „Seelenrisse“ wird Leo Kleinschmidts wunderbare, indes kaum Dauer versprechende Liebesbeziehung zu einer Polin erzählt. Die familiären Nebenstränge führen den Leser in esoterische Grenzerfahrungen ein. Der Leser gewinnt intime Einblicke in Stalins Schlafzimmer, in die Welt sibirischer Verbannungsidylle, die schließlich durch ein SS-Bordell im KZ-Buchenwald eingetauscht wird, in ein Ostberliner Kinderheim.
Elke Mehnert: „Die Geschichte dieser großen, aber gescheiterten Liebe ist zwar der wesentliche, der strukturbildende Handlungsstrang – aber mit ihm sind zahlreiche Nebenhandlungen verknüpft, die sowohl Handlungsorte wie Figurenensemble erheblich ausweiten. (…) Neben Künstlern begegnen wir Menschen, die zwischen den politischen Systemen lavieren oder zerrieben werden. Die Skala reicht vom SS-Offizier bis zum Securitate-Spitzel oder den Personenschützern für SED-Politbüro-Mitglieder. „Seelenrisse“ haben bei diesem doppelten Spiel nicht alle davongetragen. Mimikry funktioniert schließlich in jedem System – „Blendwerk“ eben.“

Hans-Henning Paetzke: Blendwerk, Romantrilogie, Edition Pernobilis, Engelsdorfer Verlag 2008-2011
1. Band: Die gelöste Zunge, Vorwort von György Konrád, 298 S., 16,- EUR, ISBN 978-3-86901-085-4
2. Band: Versucher und Versuchte,344 S., 16,- EUR, ISBN 978-3-86703-727-3
3. Band: Seelenrisse, 278 S., 14,- EUR, ISBN 978-3-86268-219-5

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